Der Verein NHV Theophrastus hat wie in den Vorjahren eine Heilpflanze des Jahres gekürt. Der einstimmig gekürte Sieger für 2012 ist die in Nordafrika beheimatete Koloquinte (Citrullus colocynthis). Die Koloquinte ist eine interessante Heilpflanze, nur die Begründung des NHV ist fragwürdig.

Die Jury des NHV Theophrastus begründete die Entscheidung unter anderem mit dem bisher viel zu wenig bekannten Heilungspotential der Koloquinte. Der NHV Theophrastus teilt mit, gerade in Zeiten der Zivilisationskrankheiten sei die verdauungsfördernde, entgiftende und leberstärkende Wirkung der Heilpflanze von besonderer Bedeutung: „Die Koloquinte ist ein Kleinod in der Behandlung von Verdauungsproblemen.“ Die Jury erhofft sich zudem perspektivisch „neue wissenschaftliche Forschungsansätze“.

Paracelsus

Paracelsus – der Namensgeber des Vereins – erwähnt die Koloquinte häufig und formuliert in der damaligen drastischen Sprache: „Wer der Coloquint frißt, der muß zum Stuhl.“ Die Koloquinte – so der NHV Theophrastus in einer Pressemitteilung –  sei als Abführmittel unter therapeutischer Aufsicht anwendbar gegen Verstopfungen. Außerdem könne sie die Behandlung von rheumatischen Erkrankungen und Hautausschlägen unterstützen. In der Homöopathie sei Colocynthis ein wichtiges Hauptmittel bei Koliken.

Kommentar & Ergänzung:

Die Koloquinte ist zweifellos eine interessante Heilpflanze. Insofern habe ich gar nichts einzuwenden dagegen, dass sie nun zur Heilpflanze des Jahres 2012 gewählt wurde. Fragwürdig ist nur die Begründung der Jury.

Gerade in Zeiten der Zivilisationskrankheiten sei die verdauungsfördernde, entgiftende und leberstärkende Wirkung der Heilpflanze also von besonderer Bedeutung, schreibt der NHV Theophrastus und bezeichnet die Koloquinte als „ein Kleinod in der Behandlung von Verdauungsproblemen.“

Was heisst das genau?

– Der Hinweis auf die „Zeiten der Zivilisationskrankheiten“ ist vage und nebulös. Was meint der NHV genau damit? Welche Zivilisationskrankheiten aufgrund welcher Wirkungen?

– Begriffe wie „Kleinod bei Verdauungsproblemen“ und „verdauungsfördernde Wirkung“ sind vage und können sehr unterschiedliches bedeuten. Defacto wirkt die Koloquinte in Verdauungstrakt einfach abführend, wie schon Paracelsus geschreiben hat. Aber „Kleinod bei Verdauungsproblemen“ tönt offenbar viel besser.

– Eine entgiftende Wirkung soll die Koloquinte zudem haben. Es ist immer wieder das selbe mit solchen Entgiftungskuren: Nie wird genauer erklärt, welche Giftstoffe damit auf welche Weise ausgeschieden werden sollen. Offen bleibt auch, wie die Koloquinte merkt, welche Stoffe als Giftstoffe auszuscheiden sind, und welche Stoffe auf keinen Fall ausgeschieden werden dürfen, weil sie in unserem Organismus unabkömmlich sind.

Leberstärkende Wirkung

– Dazu kommt dann noch die „leberstärkende Wirkung“. Auch hier bleibt offen, welche der vielfältigen Funktionen der Leber gestärkt werden sollen. Irgendwelche konkreten Hinweise auf eine Leberwirksamkeit der Koloquinte gibt es in der Phytotherapie-Fachliteratur bisher nicht. Die Phytotherapie kennt als „Leberpflanze“ die Mariendistel. Hier ist aber einigermassen beschreib- und begründbar, welche Funktionen der Leber durch die Mariendistel bzw. ihre Inhaltsstoffe Silymarin / Silibinin beeinflusst werden.

Siehe:

Silibin (Legalon®) jetzt zur Hepatitis-C-Therapie

Mariendistel hat auch antivirale Wirkung

Silibin aus Mariendistel unterstützt Standarttherapie bei chronischer Hepatitis-C

Eine pauschale „leberstärkende Wirkung“ zu postulieren ohne konkretere Angaben dazu zu machen ist sehr fragwürdig.

– Die vom NHV in Aussicht gestellte Wirksamkeit gegen Rheuma und Hautausschläge ist nirgends fundiert belegt und basiert offenbar auf Anekdoten.

– Für die Wirksamkeit von „Colocynthis“ als ein Hauptmittel der Homöopathie gegen Koliken gibt es nirgends fundierte Belege. Allfällige Erfolgsmeldungen auf der Basis von Anekdoten lassen sich am überzeugendsten damit erklären, dass Koliken eine natürliche Neigung zum Abklinken haben und diese mit einer Wirkung des Mittels verwechselt wird (Post-hoc-ergo-propter-hoc-Fehlschluss).

Dazu kommt noch, dass die Koloquinte zu den Giftpflanzen gehört und daher einen sorgfältigen Umgang erfordert. Davon steht in der Pressemitteilung des NHV nicht der kleinste Hinweis.

Im Gegensatz dazu schreibt der „Leitfaden Phytotherapie“ (2010):

„Anwendungsdauer: Koloquintenfruchtauszug ist nicht zur längerfristigen Einnahme geeignet. Die Einnahmedauer  sollte sich im Bedarfsfall auf so wenige Tage wie möglich beschränken. Nicht länger als 14 Tage hintereinander und innerhalb eines Jahres nicht an mehr als 30 Tagen anwenden.“

Ausserdem führt der „Leitfaden Phytotherapie“ zahlreiche Krankheiten und Zustände auf, bei denen die Koloquinten nicht angewendet werden sollen:

„Kontraindikationen: Ileus, akute und chronische entzündliche Darmerkrankungen (z.B. Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Appendizitis, abdominale Schmerzen unbekannter Ursache, schwere Dehydration mit Wasser- und Salzverlust, gleichzeitige Einnahme von Herzglykosiden, Antiarrhytmika, Diuretika, Kortison, Nebennierenrindensteroiden oder Süssholzwurzel, bekannte Überempfindlichkeit gegen Koloquinthen oder andere Bestandteile, gleichzeitige Einnahme anderer Abführmittel, Schwangerschaft, Stillzeit, Kinder unter 12 Jahren.“

Es geht mir keinesfalls darum, nun dramatische Warnungen vor der Koloquinte in die Welt zu posaunen. Ich finde aber, dass ein Hinweis auf allfällige Nebenwirkungen und auf Vorsichtsmassnahmen in eine solche Pressemeldung gehört hätten.

Es ist nicht das erste Mal, dass der NHV Theophrastus seine Wahl der Heilpflanze des Jahres mit fragwürdigen Angaben begründet. Das schadet meines Erachtens dem Ruf der Pflanzenheilkunde und auch der Phytotherapie.

Die alljährliche Wahl einer „Arzneipflanze des Jahres“ durch den Studienkreis «Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzen» an der Universität Würzburg ist dagegen fundiert und seriös.

Abschliessend noch Informationen aus Wikipedia zur Koloquinte:

„ Nutzung

Die Koloquinte wurde und wird als Medizinialpflanze angebaut, vor allem im Mittelmeergebiet, in Afrika und Indien. Verwendet wird das getrocknete Fruchtfleisch von unreifen, aber ausgewachsenen Früchten. Zu den Anwendungsgebieten in der Volksmedizin zählen: Geschwüre, Asthma, Bronchitis, Gelbsucht, Dyspepsie, Verstopfung, Anämie; aber auch gegen Tumore, bei Wassersucht, Problemen mit dem Harnablassen, bei Rheumatismus, als Antidot gegen Schlangenbisse. Die seit der assyrischen Zeit kultivierte Pflanze wurde ebenfalls im alten Rom zur Bekämpfung von Nagetieren verwendet. Wahrscheinlich hat sie schon vorher eine wichtige Bedeutung im israelischem Reich zur Zeit des bekannten weisen Königs Salomo (ca. 990 bis 930 n.Chr.) gehabt. Salomo ließ gegossene Abbilder der (höchstwahrscheinlich) Koloquinte als Dekoration am Rand um sein Wasserbecken herum anbringen (vgl. in der Bibel 1. Könige 7,23-24). Darüber hinaus werden die nichtbitteren Samen gegessen und in Afrika das aus ihnen gewonnen Öl zum Kochen verwendet.“

(Quelle: Wikipedia)

Wir finden in diesem Abschnitt die für viele traditionelle Naturheilmittel der „Volksmedizin“ charakteristische „Indikationslyrik“. Aufgabe von Fachleuten ist es dann, sich immer wieder mit den traditionellen Angaben auseinanderzusetzen und herauszuschälen, welche der vielfältigen Empfehlungen plausibel sind. Denn Tradition hat nicht einfach fraglos immer Recht.

„Wirkstoffe

Die Wirkung der Koloquinte beruht auf ihrem Gehalt an Cucurbitacinen, Triterpene mit bitterem Geschmack, der bis zu 3 % beträgt. Die Cucurbitacine, bei dieser Pflanze B, E und J, liegen in freier und in glykosidischer Form vor. Die Wirkung beruht dabei auf den freien Cucurbitacinen. Der Gehalt im Fruchtfleisch beträgt 0,22 %, in den Samen 0,18 %, im Stängel 0,17 % und in den Blättern 0,15 %.“

(Quelle: Wikipedia)

„Symptomatik

Die Einnahme kann zu Reizung der Schleimhäute im Magen-Darm-Trakt und blutigen Durchfällen führen. Nierenschäden und eine abortive Wirkung sind möglich. Die Cucurbitacine wirken cytotoxisch und antimitotisch. Die Wirkstoffe gehen in Harn und Muttermilch über und können bei Schwangeren zum Abort führen. Weitere Vergiftungserscheinungen sind Geschwüre, Wanddurchbrüche, Peritonitis, Blutungen der Niere und Harnblasenschleimhaut-Entzündungen. Oft treten Hyperämie im Gehirn, Delirien und Kollaps auf. Der Tod tritt infolge eines Atemstillstandes ein. In der Homöopathie wird die Pflanze bei Durchfall, Darmkatarrh und chronischem Darmkatarrh angewendet. Verwechselungen der Koloquinte mit Wassermelonen oder Zucchini führten mitunter zu Vergiftungen. Hierbei wurden auch Vergiftungen bei Tieren beobachtet, die die Früchte verzehrten. Die Einnahme von 3 g C. colocynthis ist tödlich. Nach einer Exposition der Haut mit den Wirkstoffen kann es zu einer Blasenbildung kommen.“

(Quelle: Wikipedia)

„Pharmakologie

Die Cucurbitacine hemmen die mitotische Zellteilung und wirken daher cytotoxisch.“

(Quelle: Wikipedia)

„Erste Hilfe und klinische Therapie

Als erste Hilfe erfolgt die Gabe von Aktivkohle und Natriumsulfat sowie der anschließenden Verabreichung von viel Flüssigkeit. In der Klinik erfolgt nach einer Überdosierung in der Regel eine Magenspülung, beispielsweise mit 0,1 % Kaliumpermanganat-Lösung. Des Weiteren erfolgt die Gabe von Aktivkohle und Natriumsulfat.“

(Quelle: Wikipedia)

Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde

Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz

Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse

www.phytotherapie-seminare.ch

Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital:

Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch

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